Nur der Nebel ist grau (1965)
Impressionen aus dem neuen Werk der August Thyssen-Hütte
„Nur der Nebel ist grau“ ist nicht der Titel eines Werbeprospekts für den Ruhrgebiets-Tourismus, sondern der Titel eines mehrfach prämierten Industriefilms aus dem Jahr 1965. Er präsentiert das neue Werk Beeckerwerth der August Thyssen-Hütte AG in Duisburg. Hier kommen zum ersten Mal Arbeiter in einem Industriefilm zu Wort, die von ihrem Verhältnis zur Arbeit und über ihre Freizeit berichten. Der über 50 Jahre alte Streifen glänzt zudem mit spektakulären Kamera-Fahrten durch die Produktionsanlagen und dokumentiert auch eine technische Störung im neuen Werk.
Zwischen 1961 und 1965 baute die August Thyssen-Hütte AG auf der grünen Wiese in Duisburg-Beeckerwerth ein komplett neues Werk mit hohem Automatisierungsgrad. Ebenso modern und avantgardistisch ist der mehrmalig ausgezeichnete Film des französischen Regisseurs Robert Menegoz (1926–2013), der sich dem Thema Mensch und Maschine in der Stahlproduktion mit neuen stilistischen Mitteln näherte. Der unkonventionelle Regisseur Menegoz arbeitete gemeinsam mit seiner Frau Marga Menegoz (geb. 1941) und empfahl Sacha Vierny (1919–2001) als Kameramann. Vierny hatte mit Alain Resnai (1922–2014) eine besondere Filmästhetik entwickelt und sollte später intensiv mit Peter Greenaway (geb. 1942) zusammenarbeiten. Das französische Team erhielt absolute künstlerische Freiheit und uneingeschränkte Unterstützung von Seiten des Unternehmens für das Filmprojekt. Schon in den ersten Drehtagen stellte sich heraus, dass der Regisseur mit anderen Methoden arbeitete als sonst beim Industriefilm. Dazu gehörte beispielsweise eine bis dahin noch nie realisierte Kamerafahrt durch das Brammengerüst. Für diesen Zweck wurde eine künstliche Bramme konstruiert, die die Kamera und die Beleuchtung enthielt. Außerdem sollte die Bewegung eines abrollenden Coils im Kaltwalzwerk aufgenommen werden. Hier half ein weiterer Trick: Die Kamera wurde an einem starken Magneten geschraubt und dieser dann auf das Stahlband gesetzt. Der deutsche Komponist, Pianist und Dirgent Hans Posegga (1917–2013) steuerte die Musik bei. Er hatte bereits mehrfach für die Deutsche Industrie- und Dokumentarfilm GmbH (Dido) und andere Industriefilmproduzenten Melodien komponiert. Von ihm stammt auch die Titelmusik für „Die Sendung mit der Maus”.
„Nur der Nebel ist grau“ – das neue Werk selbst ist bunt, liegt im Grünen der Stahlstadt Duisburg. Die Arbeit dort ist weniger anstrengend als früher in den alten Fabrikationsstätten. Automatisierung wird auch vor dem Hintergrund des Arbeitskräftemangels der frühen 1960er-Jahre als grundsätzlich positive Entwicklung dargestellt: Dies ist die zentrale Aussage des Films, der mit brillanten Farbaufnahmen belegen will, dass sich die Beschäftigten bei ihrer Arbeit und in ihrem neuen Arbeitsumfeld wohl fühlen. Der Film zeichnet daher weder den Weg vom Erz zum Stahl nach, noch erläutert er die Funktion des neuen Werkes für das Unternehmen, sondern zeigt ästhetisch komponierte Impressionen, die den Zuschauer beeindrucken sollen. Den Nachweis für diese Aussage liefern – und auch das ist neu – die Arbeiter selbst, indem sie über ihre Arbeit sprechen. Sie sind stolz auf die Leistung „ihrer“ Anlage, berichten von ihren vorherigen Berufen (Maurer, Bäcker und Konditor) und ihren Freizeitaktivitäten. Auf einer zweiten Ebene wird der Zuschauer anhand von scheinbar zufällig aufgefangenen Wortfetzen, die die Werksimpressionen untermalen, unmittelbar in die menschliche Dimension der sich durch Automatisierung und Rationalisierung wandelnden Arbeitswelt einbezogen. Eine weitere Besonderheit für einen Industriefilm ist die ausführliche Darstellung eines Störfalls, für dessen schnelle und systematische Behebung der Mensch und sein Können benötigt werden. Auch in dem hochautomatisierten Werk ist der Mensch unersetzbar. „Nur der Nebel ist grau“ ist in jedem Fall ein Höhepunkt der jüngeren Industriefilmgeschichte.
Astrid Dörnemann, thyssenkrupp Corporate Archives
Filmografische Angaben
Produzent: Deutsche Industrie- und Dokumentarfilm GmbH
Auftraggeber: Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG)/Gelsenkirchener Bergwerks-AG (GBAG)
Musik: Bert Grund
Regie: Hans Joachim Ruths
Drehbuch: Dieter Rüsse
Jahr: 1963
Laufzeit: 10 Minuten
Format: 16-mm-Lichtton, Farbe
Kontakt
Historisches Konzernarchiv RWE
Hans-Georg Thomas
Ernestinenstraße 60
45141 Essen
hans-georg.thomas@rwe.com
Filmografische Angaben:
Produktionsjahr: 1965
Format: 35-mm-Lichtton aufgenommen auf Eastmancolor nach dem Techniscope-System (Breitwandverfahren)
Farbe: Farbe
Sprache: Deutsch
Laufzeit: 24 Min.; Kurzfassung für Vorführungen im Kino: 12 Min.
Regisseur: Robert Menegoz
Regie-Assistenz: Marga Menegoz
Produktion: Hans Joachim Ruths
Produzent: Deutsche Industrie- und Dokumentarfilm GmbH, Düsseldorf (Dido)
Drehbuch: Robert Menegoz
Kamera: Sacha Vierny (1. Kameramann), Walter Gebauer, Guy Tabary
Schnitt: Ginette Boudet
Ton: Hans Ruhe
Musik: Hans Posegga
Sprecher: Karl Maria Schley
Aufnahmeleitung: Harald Schott
Auftraggeber: August Thyssen-Hütte AG
Uraufführung: 14. Mai 1965, Hauptversammlung der August Thyssen-Hütte AG in der Düsseldorfer Kongresshalle
Weitere Versionen: 16-mm-Lichtton-Fassung; englische 35-mm-Lichtton-Fassung „Only the fogs are grey“; französische 35-mm-Lichtton-Fassung mit deutschem Titel; japanische 35-mm-Lichtton-Fassung mit englischem Titel
Auszeichnungen: Prädikat „Besonders Wertvoll“ der Filmbewertungsstelle Wiesbaden; Sonderpreis des „Conseil National du Patronat Francais“ für den besten Film des Festivals auf den 6. Internationalen Industriefilm-Festspielen in Rouen, 11.–16. Oktober 1965; „Großer Preis“ auf der 2. Dokumentarfilmschau der Europäischen Eisen- und Stahlindustrie in Luxemburg, 24.–27. Oktober 1965; Prädikat „Hervorragend“ auf dem 1. Deutschen Industriefilm-Forum in Düsseldorf, 30. November–3. Dezember 1966; Kulturfilmprämie 1966 des Bundesinnenministeriums; „1. Preis“ in der Kategorie C „Mensch und Beruf“ auf den 3. Deutschsprachigen Wirtschaftsfilmtagen in Linz, 9.–12. Mai 1967; „1. Preis“ in der Kategorie „Mensch und Betrieb“ auf den 8. Internationalen Industriefilm-Festspielen in Lissabon, 5.–10. September 1967.
Kontakt
thyssenkrupp Corporate Archives
Astrid Dörnemann M.A.
Friedrich-Ebert-Straße 12
47119 Duisburg
Die Bramme mit eingebauter Kamera und Beleuchtung.
Fotograf: Karl Lang.
Quelle: thyssenkrupp Corporate Archives, Duisburg
So entstand der Blick über die Schulter bei der Moped-Szene. Robert und Marga Menegoz besprechen die Szene mit dem Moped-Fahrer im Walzwerk, an der Kamera Sacha Vierny, 1964. Fotograf: Karl Lang.
Quelle: thyssenkrupp Corporate Archives, Duisburg